Bei Regen ausgegraben

Es regnet seit Tagen und gerade wieder finde ich es wunderbar gemütlich in meinem Miniatelier Zuhause. Beim aus dem Fenster schauen, erinnere ich mich an vor einem Jahr und grabe diesen Text aus - vielleicht lässt sich ja auch jetzt noch jemand gerne einen Moment damit vertreiben.

März 2020

Es ist 19.57 Uhr. Wir haben die Balkontüren geöffnet und hören das beginnende Klatschen. Ein Ritual hier in Spanien aus der erfinderisch machenden Corona Pandemie gestanzt, das als kleines Dankeschön denen gilt, die sich um die Kranken kümmern. Zuerst sind es nur ein paar ineinander geschlagen werdende Hände, dann immer mehr. Wartende Menschen hinter Fenstergittern, wie Läufer, die den Startschuss gespannt abwarten und manchmal vor Aufregung zu früh loslaufen. Mutige wagen sich auf die schmalen Balkons mit den zu tiefen Geländern an die noch frische Luft. Um Punkt acht erwarten wir einen Klatschhöhepunkt, doch den gibt es nicht. Es zieht sich einfach immer weiter, irgendwann wird es zu einem kollektiven Klatschdonner, begleitet von singenden Stimmen und Musik. Ungefähr zehn Minuten stehen wir auf unserem eigenen winzigen Balkon, schauen in leere Gassen mit orangenem Strassenlicht und könnten weinen - vor Dankbarkeit nun in Europa zu sein und dem gleichzeitigen Vermissen von dem, was vorher war. Vor Gerührtheit des kleinen Gefühls, Teil von etwas Grösserem zu sein und der grossen Ungewissheit, die im Moment auf jedes Gefühl zu folgen scheint.

Schafherden, unberührte Teile Marokkos mit weiten, kargen Berge wechselten sich bei uns in den letzten Wochen mit von rosa-weissen Mandelbäumchen durchzogenen Tälern, Lagerfeuern und vereinzelten Treffen mit fremden freundlichen Menschen ab. An einem Abend vor fast vier Wochen fahren wir mit unserem gelben Bus über einen schmalen Bergweg irgendwo im Atlas hoch, die beängstigende Schräglage unseres Autos nehmen wir für die Übernachtung über der Welt in Kauf. 
„Falls die Welt wirklich so scheisse dran ist, wie man manchmal hört und bald den Bach ab geht, würde ich vielleicht genau das tun wollen, was wir jetzt tun. So viel wie möglich noch davon sehen“, sage ich auf einer Bergspitze zu Rob in die untergehende Sonne vor uns. „Wenn ich das hier sehe, dann macht mir nichts mehr Angst.“ Ruhig sein, schauen und das Leben akzeptieren, wie es kommt, sogar dann wenn nicht mehr viel kommen würde. Da oben auf der Spitze sitzend, sind wir Teil von etwas Grösserem, irgendetwas, das ohne Ende zu existieren scheint. Ein Gefühl, an dem ich im Alltag immer arbeiten muss und das hier oben einfach da ist. 
Beim allnächtlichen Pipi-Gang und bewussten Wahrnehmen von Mondphasen und der ansteckenden Gelassenheit stoischer Gebirgsketten vergassen wir in der schon seit immer da zu sein scheinenden Natur nicht selten für ganze Tage, dass sich die Welt überhaupt verändern kann. Doch das tat sie anscheinend doch.  

Sechs Tage ist es nun schon her, seit wir in der Stadt Fes ankamen und uns die volle Ladung an News, besorgten Telefonaten und verändertem Marokko aus der tiefen Atlas-Gelassenheit raus katapultierte. Internet und Erreichbarkeit holten uns zurück aus der Natur, leider viel schneller als wir nachkommen konnten. Hier jetzt in unserer kleinen Notfall Quarantäne Wohnung mittlerweile in Sevilla Spanien machen wir aber nun bereits das Beste draus. Wir erkunden (einzeln) den Supermarkt um die Ecke, entdecken leckere spanische Spezialitäten und überlegen uns trotz der grossen Weltpause weitere Einmachrezepte. Wir schmieden Pläne, ziehen in Gedanken bereits einen Catering-Markt-Mix auf und entwerfen Luftschlösser aus fein duftenden Geschmackskombinationen, um nachdem allem bei gutem Essen wieder zusammen kommen zu können. Beim brunchen auf dem zu kleinen Tisch lassen wir uns von Aprikosen-Schokoladen Gonfi inspirieren und unsere mini Airbnbnwohnung zu einem kleinen Ort der Quarantänen Kreativität werden.

Ich denke ich an die letzten Tage zurück. Alles ging irgendwie zu schnell, zu viele Internetseiten frassen sich in mein Gehirn rein - hätte ich einen Spamordner, er wäre jetzt voll. Erinnert ihr euch an die Kinderkassetten von früher? An das Kasperlitheater, Pumukel und an das laute Ticken des Play Knopfes, wenn die Geschichte zu Ende war? Dann erinnert ihr euch vielleicht auch daran, dass die hauchdünnen schwarzen Bänder in den Kassetten manchmal hängen blieben, etwas rausgezogen wurden zu einem Minigewusel und man die Geschichte nur mit Vorwärtsspulen und etwas Glück noch retten konnte. Hätte das schwarze Band Gefühle, ich glaube, ich könnte nachvollziehen, wie es sich nach dem Spulen fühlte. Die Natur in Marokko war wunderschön und wir liessen unsere Geschichte von ihrer Unendlichkeit gerne etwas aus der Plastikkassette ziehen. Während ich das hier schreibe, wird mir klar, dass ich die Figuren vor dem Spulen nie gefragt hatte, ob sie zurück in ihre vorgeschriebene Geschichte wollten und ich erinnere mich an die eine oder andere Kassette, bei der nach dem Spulen ein kleiner Riss im Band zurück blieb. 

Nun sechs Tage später sitze ich hier, in Spanien und nicht mehr in Marokko, höre dem Klatschen zu und weiss, dass unsere unendliche Weite nun auf 30m2 geschrumpft ist. Ich denke an die Menschen zurück in den trockenen Gebieten Marokkos, in denen es seit zwei Jahren keinen Regen mehr gab und daran, dass sie dafür beteten, dass er wieder käme. Daran, dass sie immer wussten, was sie wollten. Dass das Wasser das Gute bringen würde und das die Zeiten ohne es, gerade etwas schwierig sind. Und ich höre die Menschen hier und Zuhause. Höre, dass sie ebenfalls wissen, dass es gerade schwierig ist. Doch wenn ich weiter hören, höre ich das ‚aber’, das danach kommt. ‚Aber‘ es ist auch spannend. Aufregend. Irgendwie interessant, etwas Neues. Ich vergleiche sie, die Marokkaner, die nicht immer viel zu haben scheinen und den Regen wollen und nicht die Aufregung. Und die Menschen, die meinen alles zu haben und die Aufregung wollen, auch wenn sie ihnen ihr ‚alles‘ vielleicht ein wenig weniger machen könnte. Ich vergleiche es, gebe auf und denke, vielleicht läuft die Welt wirklich allgemein gehörig schief. Vielleicht läuft sie aber auch einfach, wie sie läuft, dreht sich und wir uns mit ihr und beim Drehen wird es einem nun mal manchmal schwindelig. Vielleicht ist es ok die Aufregung zu geniessen, auch wenn es ein 1. Weltproblem ist, denn vielleicht merken wir plötzlich, dass unsere 1. Welt nicht immer wirklicher Luxus ist. Vielleicht sehen wir dem Interessanten gerne noch etwas zu, weil wir nur noch nicht verstanden haben, was wir in unserer Geschichte zu verlieren haben. Oder aber wir wissen einfach irgendwo schon, was wir dadurch gewinnen können, was vorher fehlte.

Ob uns die Klatschritual-Gerührtheit dank dem Gemeinschaftsgefühl hilft, in Zukunft vielleicht öfters mal mit den Nachbarn ins Gespräch zu kommen? Oder die tausend Facebookaufrufe zur Mithilfe beim Einkaufen für alte Leute uns auch nach all dem wissen lassen, das alte Leute manchmal einsam sind? Ich versuche daran zu glauben, dass nur wir selbst schlussendlich bestimmen können, ob wir aus dieser Situation etwas Positives oder Negatives herausholen und hoffe heimlich auf einen kleinen Riss, der uns nach dem Vorspulen nicht alles vergessen lässt. Den gespult wird irgendwann sowieso und die Zeit wird dann wahrscheinlich plötzlich für einen Moment noch schneller laufen wie vorher. 

Aber egal was passiert, ob man schlussendlich etwas Positives draus macht oder nicht, das Verlässlichste ist wohl immer das laute Zurückspringen des Playknopfs am Ende der Geschichte. Mit oder ohne Riss im Band, irgendwann waren alle Geschichten immer fertig. Und auch wenn es vielleicht idealistisches Kopfkino sein mag, so denke ich doch, egal wie es kommt, solange ich meine Geschichte mit dem Glauben an das Gute beenden lasse, kann ich zufrieden sein. Daran denke ich und beschliesse, daran zu glauben, dass wir aus dieser Situation irgendwann etwas Gutes zurück behalten können. 

Bevor ich ins Bett gehe, schaue ich nochmals hinaus in die Strassen und vergewissere mich, dass wir wirklich nicht mehr in Marokko sind. Das Klatschen ist nun weg, die Musik mit ihm, nur das orange Licht ist geblieben, auch wenn niemand durch die Strassen läuft. Ich denke an morgen, freue mich auf den Minispaziergang zum Bäcker, den ich mir extra aufgehoben habe, indem ich vorher im Supermarkt noch kein Brot kaufte. Denke daran und auch an die Berge von vor einem Monat und ziehe mein eigenes hauchdünnes schwarzes Band in der Kassette in meinen Gedanken nochmals für einen Moment ein kleines Stück heraus. 

Marokko2020-200319-415.jpg
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