Herbsttage und Winterblues

Die Tage werden kürzer und die Dunkelheit umhüllt sie wie ein Mantel, der mehr und mehr zugezogen wird. Wir frieren mehr, Erkältungen schauen vorbei und Bürozeiten machen es teils mehrere Tage unmöglich, die Sonne zu spüren.

Nicht nur liegen plötzlich bunte Blätter am Boden – auch die Luft, die Stimmung, die ganze Atmosphäre scheint sich zu verändern. Zu keinem anderen Jahreswechsel, so scheint es mir, geschieht dies so markant wie wenn der Sommer dem Herbst Platz macht.

Die dunkle Jahreszeit & Depressionen

Das merken wir. Mit dem Wechsel beginnt für viele nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich die dunkle Jahreszeit. Je nach Quelle leiden etwa 2,5 % der Schweizer Bevölkerung an einer sogenannten Winterdepression – einer saisonal bedingten Depression, die im Frühling wieder verschwindet. Das sind circa 227.000 Menschen. Typische Symptome sind unter anderem anhaltende Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Steigerung des Appetits und ein Gefühl von Traurigkeit.

Doch inwieweit sind diese Symptome nicht auch ein ganz normaler Teil unseres Zyklus der Jahreszeiten? Natürlich gibt es genug Menschen, die an einer wirklichen Winterdepression leiden, und diese Symptome möchte ich auf keinen Fall kleinreden. Gerade dann, wenn es sich jährlich wiederholt und bereits Anfang Herbst das Wissen da ist, was auf einen möglicherweise zukommt, kann das Leiden sehr groß sein.

Doch ich bin in der Überzeugung, dass ein gewisses Maß dieser Symptome ganz natürliche Begleiter dieser Zeit sind. Und sie sind wichtig.

Herbst ist Rückzug

Mit dem Herbst beginnt sprichwörtlich das Sterben – man kann es nicht anders sagen. Die Natur zieht sich zurück und lässt los, was sie entbehren kann. Herbst ist Rückzug. Herbst sind Tage von Melancholie getränkt, ein Merken, was nicht mehr passt, und ein Loslassen und Abschiednehmen.

Früher fing im Herbst das Vorbereiten auf den Winter an. Menschen machten Lebensmittel ein, Arbeiten am und ums Haus wurden möglichst fertiggemacht und „das Nest" für den fast kompletten Rückzug im Winter wurde bereit gemacht.

Die Ameise und die Grille

In der Kindergeschichte „Die Ameise und die Grille" geht es um genau diese Vorbereitungen. Die Ameise arbeitet den ganzen Sommer durch und schleppt Vorräte heran. Die Grille hingegen sitzt in der Sonne, musiziert und genießt das Leben. Natürlich lässt die Moral nicht lange auf sich warten, als die Grille im Winter nichts hat und auf die Ameise angewiesen ist.

Klar, es ist heute nicht mehr nötig, uns Vorräte anzuhäufen und unsere Häuser wetterfest zu machen. Ich bin auch nicht für die Ameisen-Moral und finde das Leben genießen eine wunderbare und wichtige Sache! Doch der Kern der Geschichte bleibt, finde ich, wichtig.

Vorbereitung auf den Winter

Wir brauchen die Vorbereitung genauso. Wir brauchen den Übergang des Herbstes als Vorbereitung für den Winter. Der Herbst ist auch das Loslassen des Sommers – des puren Lebens, des „da noch kurz an ein Fest vorbeischauen", bis spät draußen sein, Menschen treffen, flirten, tanzen.

Mit dem Herbst können wir uns an die Ruhe gewöhnen. Wir können innehalten. Uns fragen, was wir in unserem Leben nicht mehr brauchen. Ausmisten oder auch einfach mal etwas fauler sein. Uns nicht dagegen wehren, wenn wir abends nicht mehr in die Dunkelheit hinaus mögen, und stattdessen einfach weniger verplant sein. Das Mehr-mit-uns-Sein aushalten oder sogar genießen.

Uns, wo immer möglich, dem Wetter anpassen und bei Sonnenschein eine Stunde weniger arbeiten und einen Spaziergang machen. Am Morgen eine halbe Stunde länger schlafen. Klar, das ist nicht immer alles möglich, doch oft möglicher, als wir es tun. Und so wichtig! Für unsere psychische genauso wie unsere physische Gesundheit.

Sexualität & weiblicher Zyklus

Menschen mit einer Menstruation kennen den innerlichen Herbst vielleicht besonders gut. Nicht selten ist vor der Menstruation weniger Energie da und auf zu viel Trubel und Begegnungen wird schneller gereizt reagiert. Es kommt eine monatliche Sehnsucht des in sich gehen und ein Wunsch nach Ruhe. Wird dem nicht dagegen gehalten und gleich viel von sich selbst erwartet, darf nach der Menstruation meist umso mehr Energie zurück kommen und ins Aussen gebracht werden.
Genauso kann sich das auch in der Sexualität zeigen. Kommen wir mit unserem Inneren regelmässig in Kontakt und spüren uns selbst, können wir auch mit anderen Menschen tiefere und intimere Verbindungen eingehen. Sexualität darf zyklisch sein! Es darf innegehalten werden, ob zwischen mehreren sexuellen Kontakten oder während einer einzelnen Begegnung. Doch dazu dann mal mehr in einem eigenen Beitrag.

Der Natur gleichtun

Statt dem Licht hinterherzurennen und vor Weihnachten in die beleuchteten Einkaufszentren zu stürmen, könnten wir es der Natur also gleich(er) tun, finde ich. Einfach mal runterschalten. Energie sparen, um im Frühling wieder aufzublühen. Immerwährender Sommer geht nun mal nicht – das ist ein Naturgesetz, zumindest auf dem Teil der Erde, auf dem wir leben.

Alles Leben unterliegt Zyklen und Leben ist immer Veränderung. Warum also der Melancholie dieser Zeit nicht einfach mal die Tür öffnen und damit sein? Ich bin davon überzeugt, dass genau das eine wunderbare Vorbereitung gegen einen anhaltenden Winterblues ist. Denn die Sonne scheint auch an den kürzesten Tagen immer mal wieder. Und wenn es doch zu viel wird, darf sich immer Hilfe geholt werden!

Weiter
Weiter

Spürst du dich?