Was bedeutet dir Sexualität? Eine Einladung zum Innehalten

Wann hast du dir das letzte Mal die Frage gestellt: Was bedeutet Sexualität eigentlich mir? Nicht was sie bedeuten sollte, nicht was andere darüber denken oder was in Zeitschriften steht – sondern ganz persönlich, ganz ehrlich: Was bedeutet sie dir?

Es ist eine Frage, die selten Raum bekommt. Wir leben in einer Welt, die gleichzeitig hypersexualisiert und sexuell verschlossen ist. Überall Bilder, Erwartungen, Normen – und doch so wenig Raum für die eigene, innere Wahrheit. Für das leise Spüren: Was möchte ich eigentlich? Was gibt mir Sexualität? Ist Sexualität gleich Sex für mich? Und wofür ist sie in meinem Leben da?

Die vielen Gesichter der Sexualität

Sexualität ist nicht nur das, was zwischen Körpern geschieht, wenn das Licht ausgeht. Sie ist Lebensenergie - manchmal wie ein sanfter Fluss, manchmal wie tosende Wellen. Sie ist Verbindung – zu dir selbst und zu anderen. Sie kann Lust, Sehnsucht, Nähe, manchmal auch Heilung sein. Genauso kann sie Sehnsucht nach Berührung sein, nach Gesehen-Werden, nach dem Gefühl: Ich bin lebendig. Ich bin hier. Sie kann wild sein oder zart, kraftvoll oder sanft, laut oder still.

In meiner Arbeit als psychologische und sexologische Beraterin begegne ich den unterschiedlichsten Beziehungen zu Sexualität. Manche Menschen suchen in ihr vor allem körperliche Entspannung, andere emotionale Nähe. Manchmal kann sie intim und verbunden sein, zart und spielerisch. Ein andermal kraftvoll, intensiv und mit Dominanz und Hingabe spielen – bis hin zu Formen, die rau und fordernd sind. Solange sich alle Beteiligten dabei wohl und sicher fühlen, gibt es kein Richtig oder Falsch – nur dein ganz persönliches Erleben.

Die tantrische Philosophie, die meine Arbeit stark prägt, versteht Sexualität als mögliches Tor zur Bewusstheit. Als eine Möglichkeit, ganz präsent zu sein – im Körper, im Moment, in der Begegnung. Nicht als Mittel zum Zweck, nicht als Leistung, sondern als Sein. Die tantrische Philosophie kennt keinen 'schlechten' Sex. Alles gehört dazu – auch das Stolpern, auch das Nicht-Passen, auch die Momente, in denen wir uns verloren fühlen. Es ist alles Erfahrung, alles Leben.

Solosex – eine mögliche Begegnung mit dir selbst

Solosex, Selbstliebe, Masturbation – wie auch immer du es nennen magst – kann so viel mehr sein als „schnelle Erleichterung" oder Ersatz für Partnersex. Für manche Menschen ist es ein wichtiger Weg, für andere weniger. Und beides ist völlig in Ordnung.

Solosex kann die Möglichkeit sein, den eigenen Körper kennenzulernen. Zu spüren, was sich gut anfühlt. Wo Lust wohnt. Welches Tempo du magst, welche Berührung, welche innere Haltung. Es kann ein Raum sein, der nur dir gehört. Ohne Erwartungen, ohne Leistungsdruck, ohne das Gefühl, jemand anderem gefallen zu müssen.

In der Stille mit dir selbst kannst du erforschen: Wie fühlt sich Erregung an? Wo im Körper spürst du sie? Darfst du sie genießen, oder ist da Scham? Kannst du dich hingeben, oder bleibst du im Kopf?

Für manche Menschen ist diese Selbstbegegnung ein wichtiger Teil ihres sexuellen Erlebens. Sie kann helfen, die eigenen Vorlieben besser zu verstehen oder Grenzen deutlicher zu spüren. Doch das heißt nicht, dass sie Voraussetzung für gute Sexualität mit anderen ist – auch ohne diese Erfahrungen kann wunderbare Intimität und Lust entstehen.

Paarsexualität – die Begegnung zwischen Welten

Und dann gibt es die Sexualität zu zweit (oder zu mehreren). Diese Begegnung zwischen zwei (oder mehr) Innenwelten, die für einen Moment miteinander verschmelzen wollen. Hier kommt alles zusammen: das, was wir mit uns selbst gelernt haben, und das, was zwischen uns entsteht.

Doch für was haben wir eigentlich Sex in einer Beziehung? Auch hier gibt es so viele Antworten wie es Menschen gibt:

  • Um Nähe zu spüren, die Worte nicht ausdrücken können

  • Um Lust und Lebendigkeit zu teilen

  • Um Stress abzubauen oder Entspannung zu finden

  • Um sich gesehen und begehrt zu fühlen

  • Um Energie auszutauschen und gemeinsam in einen anderen Bewusstseinszustand zu gleiten

  • Um einfach Spaß zu haben und zu spielen

  • Um Liebe körperlich auszudrücken

  • und und und

Nichts davon ist besser oder schlechter. Und manchmal verändert sich auch, was du suchst. Sex darf sich wandeln – mit dir, mit der Beziehung, mit dem Leben.

Die Fragen, die zählen

Vielleicht magst du für einen Moment innehalten. Nicht um Antworten zu finden, die perfekt klingen, sondern um einfach nur zu spüren, was da ist. Ohne Bewertung. Ohne Druck.

Was bedeutet Sexualität für dich persönlich?
Ist sie Entspannung? Abenteuer? Verbindung? Ausdruck? Kraftquelle?

Für was hast du Sex?
Was suchst du darin – bewusst oder unbewusst? Was erhoffst du dir?

Was gibt dir Sexualität?
Wenn du an die schönsten sexuellen Momente denkst – was war es, das sie besonders gemacht hat? War es die körperliche Lust? Die emotionale Nähe? Das Gefühl, ganz da zu sein?

Wie fühlt sich deine Sexualität mit dir selbst an?
Ist sie dir vertraut? Darf sie da sein? Oder ist da Scham, Hektik, das Gefühl, etwas „erledigen" zu müssen?

Und in der Begegnung mit anderen?
Kannst du zeigen, was du brauchst? Spürst du dich noch selbst, oder verlierst du dich? Darfst du Grenzen setzen? Darfst du innehalten, auch mitten im Akt?

Sexualität kann zyklisch sein

Genau wie die Jahreszeiten, genau wie der weibliche Zyklus, kann auch unsere Sexualität Zyklen haben. Es gibt vielleicht Zeiten voller Energie und Lust, und Zeiten des Rückzugs. Zeiten, in denen wir nach außen gehen wollen, und Zeiten, in denen wir bei uns bleiben müssen.

Auch das ist eine Möglichkeit, Sexualität zu erleben – nicht als Konstante, sondern als etwas, das sich wandelt. Manche Menschen erleben das so, andere haben ein gleichmäßigeres Verlangen. Beides ist völlig normal und in Ordnung.

Eine Einladung

Dieser Text ist keine Anleitung. Er ist eine Einladung. Eine Einladung, innezuhalten. Deine eigene Sexualität nicht als selbstverständlich hinzunehmen, sondern sie bewusst zu erforschen. Zu spüren, was sie dir gibt. Zu bemerken, wo vielleicht alte Muster laufen, die gar nicht mehr zu dir passen.

Deine Sexualität gehört dir. Sie darf sich verändern. Sie darf sein, wie sie ist. Und sie darf erforscht werden – mit Neugier, mit Sanftheit, mit Ehrlichkeit.

Vielleicht magst du dir heute, diese Woche, diesen Monat etwas Zeit nehmen. Für dich. Für deine Sexualität. Für die Frage: Was bedeutet sie eigentlich mir?

Die Antworten müssen nicht perfekt sein. Sie müssen nicht für immer gelten. Sie dürfen sich wandeln, genau wie du. Doch das Fragen – das Innehalten und Hinspüren – das ist der Beginn von allem.

Weiter
Weiter

Herbsttage und Winterblues