Die Zeit zwischen den Jahren – Wenn schwere Gefühle hochkommen

Loslassen - die Zeit zwischen den Jahren

Ich habe das Gefühl, ich spüre es momentan in allen Fasern meines Daseins. Es sickert in meinem persönlichen Leben ein und auch in meiner Praxis fühlt es sich so an, als würde sich die Qualität dieser Zeit zeigen. Menschen kommen nicht mehr, um um ihre Themen herumzusprechen – sie tauchen direkt ein. In Prozesse, die sonst vielleicht Wochen brauchen, um sich zu entfalten. Verstorbene tauchen in Erzählungen auf, als säßen sie mit im Raum. Veränderungen, die lange aufgeschoben wurden, drängen plötzlich ans Licht. Familienthemen, die das ganze Jahr über geschlummert haben, melden sich zurück.

Doch was ist es, was jetzt gerade da ist? Das, was ich selbst spüre und was so viele von uns zu begleiten scheint? Es ist die Zeit des Innehaltens. Des Zurückschauens und vielleicht auch des Loslassens.

Wenn der Schleier sich senkt

Die sogenannte Schleierzeit ist die Zeit von Samhain – dem keltischen Neujahrsfest Ende Oktober, das heute als Halloween bekannt ist – bis zur Wintersonnenwende am 21. Dezember. Beginnend mit dem Fest, an dem traditionell der Toten gedacht wurde, bringt diese Phase Herausforderungen mit sich, aber auch so viel Schönes. Sie mündet in die Rauhnächte, jene zwölf heiligen Nächte zwischen dem 21. Dezember und dem 6. Januar, die als Höhepunkt und Abschluss dieser besonderen Zeit gelten.

Die Dunkelheit ist präsenter als zu jeder anderen Jahreszeit. Wir haben hauptsächlich Nacht und wenig Tag. Die Natur zieht sich zurück, vieles wurde losgelassen, ist gestorben, anderes schläft. Um dies zu spüren, muss kein spiritueller Zugang da sein. Nein, es ist einfach Natur. Unsere Welt, in der wir leben. Ob wir es "Energie" nennen, "Atmosphäre" oder einfach "die dunkle Jahreszeit" – wir alle nehmen wahr, dass sich etwas verändert hat.

Was in unserem Körper geschieht

In der Nacht oder eben auch im Dunkeln funktionieren unsere Hormone tatsächlich anders. Unser Körper schüttet bei fehlendem Tageslicht weniger Serotonin aus – ein Botenstoff, der unter anderem unser emotionales Wohlbefinden reguliert und uns wach macht. Gleichzeitig produziert die Zirbeldrüse mehr Melatonin, das Schlafhormon, das uns müde macht.

Dies führt vermehrt zu Gefühlen wie Müdigkeit, Rückzugsbedürfnis, aber auch zu einer gewissen Verlangsamung unseres inneren Tempos. Manche Menschen erleben in dieser Zeit auch Schwermut, Ängste oder depressivere Phasen. Kein Wunder also, auch auf der körperlichen Ebene, dass wir öfter dazu neigen, uns in die Dunkelheit ziehen zu lassen – unser Körper ist darauf ausgerichtet, in dieser Zeit zur Ruhe zu kommen.

Was wir spüren – im Großen und im Kleinen

Was spüren wir? Vielleicht ist es das Sich-Verlieren in Gefühlen wie Traurigkeit, Müdigkeit, Sehnsucht. Oder das plötzliche Einsinken in Vergangenheiten, die sich schwer anfühlen. Herausforderungen können in dieser Zeit dunkler erscheinen, unausweichlicher. In meiner Praxis begegne ich jetzt Menschen, die plötzlich wissen, dass sie loslassen müssen – eine Beziehung, einen Lebensabschnitt, eine Version von sich selbst. Möglicherweise spüren wir aber auch umso mehr das Fehlen von etwas, was eben nicht da ist. Die Lücke, die jemand hinterlassen hat. Die Sehnsucht nach etwas, das war oder nie sein konnte. Ich glaube fest, dass das alles normal ist zu dieser Zeit und jetzt auch seinen natürlichen Platz hat. Doch Weihnachten und die Bilder, die wir heute von dieser Zeit haben, sind oftmals das genaue Gegenteil von all dem. Wir wünschen uns die Harmonie, das Familiengefühl mit leuchtenden Lichterketten. Wir wollen das Dunkle nicht fühlen und wenn es da ist, so denken wir, etwas stimmt mit uns nicht. Statt damit zu sein, wollen wir ins Licht, was gerade oftmals einfach nicht da ist.

Und gleichzeitig kann es sein, dass es einigen von uns leicht fällt, in eine wärmende Melancholie einzutauchen. Die Fotos aus der Kindheit auszugraben und sofort dieses altbekannte Gefühl zu fühlen. Eine Person, die nicht mehr da ist, bewusster in uns selbst wahrzunehmen. Als wäre der Abstand zwischen den Welten – zwischen dem, was ist, und dem, was war – plötzlich kleiner geworden.

Die Gabe der Dunkelheit

Lassen wir die Nacht dunkel sein, kann der Tag umso heller werden. Die Dunkelheit bringt uns nicht nur Herausforderungen. Sie hilft uns auch, die Welt um uns herum weniger wahrzunehmen und lässt uns in uns selbst eintauchen. Zu uns kommen. Wer das Café am Rande der Welt kennt, weiß, dass die tiefen Erkenntnisse oft da aufkommen, wo die Welt um uns herum verschwindet. Wo das Außen leiser wird und das Innen lauter. Die Zeit jetzt und alles, was sie mitbringt, kann ein Geschenk sein. Ziehen wir uns zurück in unser Inneres, kann der kommende Frühling umso farbiger werden. Und der Frühling kommt. Immer.

Die Wurzeln unserer Feiertage

Was haben unsere Vorfahren in dieser Zeit gemacht? Wie ist es ihnen ergangen und was hat sie beschäftigt? In einer Zeit, in der es noch kein künstliches Licht gab und sich das eigene Leben zuhause und im engen Umkreis drum herum befand. Sie mussten hoffen, dass die Kälte nicht zu groß wird. Dass die Vorräte ausreichen, bis die Sonne zurückkommt. Dass sie sich keine schlimme Krankheit einfingen.

Unsere Vorfahren feierten zur Wintersonnenwende – dem 21. Dezember, der längsten Nacht des Jahres – die Wiedergeburt des Lichts. Von diesem Tag an werden die Tage wieder länger, die Sonne kehrt zurück. Es war ein Fest der Hoffnung inmitten der Dunkelheit, ein Versprechen, dass das Leben weitergeht.

Als das Christentum sich ausbreitete, legte man die Geburt Jesu auf den 25. Dezember – Christus als "Licht der Welt", geboren in der dunkelsten Zeit. Die Rauhnächte, jene zwölf Nächte zwischen den Jahren, in denen die Zeit stillzustehen scheint, wurden zu den Weihnachtstagen. Was einst die heilige Zeit zwischen dem alten und dem neuen Jahr war – eine Zeit außerhalb der normalen Zeit – wurde zur Festzeit, die wir heute kennen.

Ob wir es nun Wintersonnenwende nennen, Weihnachten, die Geburt Jesu oder einfach "die Zeit zwischen den Jahren" – die Essenz bleibt dieselbe: Es ist die Zeit der Rückkehr des Lichts. Der Hoffnung. Des Neubeginns nach der Dunkelheit.

Was wir von unseren Vorfahren lernen können

Ich vermute, unsere Vorfahren hätten sich über vieles von heute gefreut. Darüber, das Licht oder die Heizung anmachen zu können und dank Supermarkt im Handumdrehen ein Festessen auftischen zu können. Sie hätten vermutlich das Lachen von Freunden zuhause genossen und wären dankbar gewesen, sich nicht so viel um die Gesundheit sorgen zu müssen.

Doch was können wir von ihnen mitnehmen? Vielleicht die Ruhe. Das Innehalten und einfach mal still sitzen und abwarten. Das Gefühl von nicht immer gleich alles machen zu können oder zu müssen. Dass zwischen den Jahren auch Dazwischensein darf. Irgendwo zwischen Alltag, Realität und dem Losgelöstsein von Verpflichtungen und Materiellem. Dass Weihnachtlich-Sein nicht Fröhlich-Sein bedeuten muss.

Doch dieses Dazwischen kann auch Angst machen. Wo sind wir, wenn wir nicht im Außen sind? Im Kontakt mit uns selbst. In Verbindung mit uns und unserer Geschichte. In einem Zustand, in dem wir umso mehr fähig sind, in einen wahren Kontakt mit anderen zu treten. Uns mit unseren Liebsten zu verbinden, ohne Verpflichtungen zu spüren. Die Natur wahrzunehmen und uns als Teil von ihr zu spüren, der wir ja ohnehin sind. Ganz gleich, wie entfernt wir heute von ihr vielleicht leben mögen.

Eine Einladung – keine Anleitung

Was braucht es jetzt in dieser Zeit? Vielleicht ist es für dich das Innehalten. Das bewusste Verlangsamen, das Zulassen von Gefühlen, die sonst keinen Raum haben. Das Ausgraben alter Fotoalben oder das Anzünden einer Kerze für jemanden, der fehlt.

Vielleicht brauchst du aber auch genau das Gegenteil: Unter Menschen zu sein, Weihnachtseinkäufe zu machen, Glühwein auf dem Markt zu trinken und dich vom Trubel tragen zu lassen. Beides ist richtig. Beides kann für dich stimmig sein und genau darum geht es. Darum, mit dir im Kontakt zu sein und dich zu nehmen wie du bist.

Die Einladung dieser Zeit ist nicht, es auf eine bestimmte Art und Weise zu machen. Die Einladung ist, zu spüren und dich zu versuchen so anzunehmen, wie du bist. Auch mit all den Anteilen, die dich nicht annehmen möchten. Zu fühlen, was gerade da ist. Ob du es Schleierzeit nennst, Rauhnächte, Adventszeit oder einfach "die dunkle Jahreszeit" – es ist egal. Was zählt, ist der Kontakt zu dir selbst. Und daraus folgt der Kontakt zu anderen.

Ich spüre es in allen Fasern meines Daseins. Diese Zeit hat eine Qualität, die sich nicht leugnen lässt. Ob wir sie benennen oder nicht, ob wir sie verstehen oder einfach nur durchleben – sie ist da. Und vielleicht ist das Schönste daran, dass wir sie gemeinsam erleben. Jeder auf seine Weise, aber alle im selben Rhythmus der Natur, die uns trägt.

In dieser Zeit zwischen den Jahren, zwischen Dunkelheit und der Wiederkehr des Lichts, zwischen Loslassen und Neuanfang – da sind wir. Genau hier. Und das ist genug.

Lasst uns freundlich sein miteinander in dieser dunklen Jahreszeit.

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